ABSAGE | Die Zeiten flieĂźen
Realistische Com­puter­spiel­bilder bei Hito Steyerl und Harun Farocki, 24.03.2022, XXXVI. Deutscher Kunsthistorikertag 2022, Univ. Stuttgart

„Denn die Zeiten fließen, und flössen sie nicht, stünde es schlimm für die, die nicht an den goldenen Tischen sitzen“, schreibt Bertolt Brecht in seinem Fragment „Volkstümlichkeit und Realismus“: „Die Methoden verbrauchen sich, die Reize versagen. Neue Probleme tauchen auf und erfordern neue Mittel. Es verändert sich die Wirklichkeit; um sie darzustellen, muss sich die Darstellungsart ändern.“ Wenn Brecht in unterschiedlichen Fragmenten betont, Realismus sei keine Formsache, zielt er darauf, dass realistische Werke vor allem eines einlösen müssten: der spezifischen – in seinen Worten: konkreten – Gegenwart zu entsprechen.

Dieser Beitrag überprüft zwei Videoinstallationen aus den 2010er Jahren, Hito Steyerls „Factory of the Sun“ (2015) und Harun Farockis „Ernste Spiele I: Watson ist hin“ (2010), auf diesen realistischen Anspruch hin, der sich in dem spezifischen Verhältnis zu ihrer Gegenwart entfaltet. Bei beiden Arbeiten handelt es sich um Videoinstallationen mit deutlichen Verweisen – auf der thematischen, diegetischen und bildlichen Ebene – auf digitale Spiele. Der Beitrag diskutiert, warum diese (interaktionsfreien) Videoinstallationen, die digitale Spiele darstellen, gerade ihren realistischen Anspruch in der Spannung zu ihrer Form eröffnen. Zwei Varianten eines für Computerspielbilder spezifischen Realismus werden in den Blick genommen: Hito Steyerls „rhetorischer Realismus“ und Farockis „postindexikalischer Realismus“. In einem ersten Schritt wird Hito Steyerls Videoinstallation „Factory of the Sun“ in Hinblick auf ihre Referenzen auf Bertolt Brechts Realismus untersucht und diskutiert, ob der Brecht’sche Realismus mit Steyerls Adaption seiner künstlerischen Mittel vereinbar ist. Im zweiten Teil werden anhand von Harun Farockis vorletzter Werkserie „Ernste Spiele“ (2009/2010) weitere Ideen zum Realismus des Computerspielbildes ins Spiel gebracht. Ausgehend von einer Eigenschaft der „computational aesthetics“ (Fazi/Fuller), nämlich der logischen Äquivalenz unterschiedlicher Systeme, wird ein spezifischer Realitätsbezug des diskutierten Bildtypus fokussiert.

Bertolt Brecht, Ăśber Realismus, Berlin/Weimar/Frankfurt a. M. 1968, S. 124.
M. Beatrice Fazi und Matthew Fuller, Computational Aesthetics, in: Christiane Paul (Hg.): A companion to digital art, Chichester/Malden, MA 2016, S. 281–296.